Thematische Einleitung

By Elisa Roßberger and Patrizia Heindl

Einleitung

Der Einsatz multimodaler Kommunikationsstrategien lässt sich in Ägypten ebenso wie in Mesopotamien bis an die Anfänge der Schriftentwicklung zurückverfolgen. Eine beschriebene und/oder zusätzlich reliefierte Statue, ein Gefäß, eine Waffe, eine Schminkpalette oder eine gesiegelte Tontafel konnten zu und für nicht-anwesende Akteure sprechen, den Betrachter zum Sprechen, Berühren oder sonstigem Handeln auffordern, und vergangene (oder zukünftige) Ereignisse dauerhaft vergegenwärtigen — und das offensichtlich wirksamer als monomodale, also rein bildlich oder textuell gestaltete Artefakte. Vielfach bediente man sich dabei überraschender, kunstvoller oder spielerischer Verschränkungen verbaler und non-verbaler Elemente. Der strukturelle Aufbau der Text-Bild-Verbindungen, ihre Rahmung, Skalierung und Anbringung auf dem Artefakt, konnten ebenso zur kommunikativen Wirksamkeit der Artefakte beitragen, wie deren Materialität und räumliche Positionierung.

Damit unterscheiden sich antike und gegenwärtige Kommunikationsstrategien, die multiple Erfahrungs- und Kommunikationskanäle zur Vermittlung ihrer Botschaft(en) nutzen, nicht grundsätzlich, wohl aber in ihren Ressourcen-bedingten gestalterischen Möglichkeiten. Die im Zuge digitaler Medien gewachsene Bedeutung von visuellen und auditiven Ausdrucksformen in Verschränkung mit textbasierten Informationen, hat in den letzten Jahren zu einer verstärkten wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Mechanismen von Multimodalität sowie ihren kognitiven Voraussetzungen geführt, v.a. in Bereichen wie Werbung, Visual Design, Infografik und Sozialen Medien.[1] Ausgehend von Methoden und Begrifflichkeiten der Soziosemiotik und Bildlinguistik,[2] kann die altertumswissenschaftliche Forschung von diesen Entwicklungen profitieren und gleichzeitig den Blick auf kulturspezifische Ausprägungen in der Langzeitperspektive schärfen.

Die Tagung konzentriert sich auf Formen der Interaktion zwischen sprachlichen und nichtsprachlichen Elementen der graphischen Gestaltung im Alten Ägypten und dem Vorderen Orient. Dabei dient der in Kommunikations- und Medienwissenschaften gebräuchliche Begriff der „Multimodalität“ als konzeptioneller Anker für ein Nachdenken über die Schnittstellen zwischen semiotischen Codes, Sinnesmodalitäten und kognitiven Prozessen. Der komparatistische Blick soll helfen, sich den Gemeinsamkeiten und Unterschieden der materiellen und mentalen Zeichenideologien, die der Herstellung und Verwendung der Artefakte zugrunde liegen, anzunähern.[3]

Die Tagung bringt Vertreter*innen der Bildphilosophie, Bildlinguistik, Medien- und Religionswissenschaften, mit Altertumswissenschaftler*innen zweier benachbarter Kulturräume ins Gespräch. Bei der Auswahl der Referierenden wurde besonderer Wert daraufgelegt, dass Überschneidungen zwischen archäologischer, philologischer und kunstgeschichtlicher Forschung adressiert und traditionelle Fächergrenzen überschritten werden.

MZAW CollageDas Münchner Zentrum für Antike Welten (MZAW) als Arbeitsgemeinschaft von Wissenschaftler*innen aus den mit antiken Kulturen befassten Fächern der LMU München, bietet eine ideale Plattform für die Veranstaltung zu der sowohl Münchner Fachvertreter*innen als auch internationale Kolleg*innen beitragen werden. Im Folgenden sollen die thematischen Schwerpunkte der Tagung ausgeführt werden.

Terminologie und Methodik der multimodalen Artefakt-Analyse

Eine vergleichende Betrachtung multimodaler Kommunikationsformen in Antike und Gegenwart setzt eine Reflektion über terminologische und theoretisch-methodische Grundlagen voraus. Hierbei bietet sich die Semiotik als nützliches Begriffs- und Analysewerkzeug an, mit dessen Hilfe sich Beziehungen zwischen verschiedenartigen Zeichensystemen fassen und kulturübergreifend vergleichen lassen.

Die Semiotik galt lange Zeit als zu sprachzentriert, um für die Analyse von Bild- bzw. Text-Bild-Werken von Nutzen zu sein; zudem wurde die Fokussierung auf Kommunikationsendpunkte (Zeichenbenutzer: Sender, Empfänger) und Botschaften unter Vernachlässigung der spezifischen materiellen und visuellen Ausprägung der Kommunikationsformen und -kanäle selbst kritisiert. Eine Konzentration auf das Kommunikationspotential von Zeichenphänomenen führe demnach zu einer Blindheit gegenüber ästhetischen und atmosphärischen Erfahrungen („Anschauungsvergessenheit“ nach Horst Bredekamp), einer „Körpervergessenheit“ (Hans Belting) und einem Mangel an „Präsenzorientierung“ (Hans Ulrich Gumbrecht).[4] Weiterentwicklungen in den Feldern der Kultur- und Sozio-Semiotik griffen diese Kritikpunkte auf und setzten neue Schwerpunkte mit dem Ziel soziale Dimensionen und Prozesse der Bedeutungszuschreibung durch das kombinierte Erfahren verschiedener Zeichensysteme visueller, verbaler, auditiver oder taktiler Natur besser zu verstehen.[5]

Formen von Multimodalität in Ägypten und Vorderasien

Damit werden zeit- und kontextspezifische Ausprägungen sozial konstituierter Bedeutungssysteme (semiotische Praktiken oder Ideologien) relevant, die es vor dem Hintergrund konkreter historischer Konstellationen und Umstände in Fallbeispielen aus dem Alten Ägypten und dem Vorderen Orient herauszuarbeiten gilt.

Im Fokus steht die Gesamtaussage (Semantik), die sich aus einer spezifischen Kombination von Text und Bild in/an einem Artefakt ergibt. Formen und Gestaltung von auf Trägerobjekten fixierter Sprache und Bildern, ihrer anteiligen Größe, Gewichtung, Anordnung und Rahmung soll dabei besonderes Augenmerk zukommen (Materialität; Syntaktik); ebenso den gestischen, taktilen oder tonalen Handlungen, die dem Benutzer/Betrachter durch bestimmte Bild-/Schrift-Konstellation nahegelegt wurden (Performativität; Pragmatik). Dazu liefert die räumliche Einbindung der Artefakte wichtige Hinweise (Kontextualisierung).

Für das alte Ägypten lässt sich eine intensive Verschränkung von Schrift, Bild und Sprache beobachten, die, zum einen zu einer ‚Übersetzbarkeit‘ ganzer Bildwerke als Rebus und zu Formen von Emblematik (einschließlich ‚Kryptographie‘) geführt hat, zum anderen zu einer doppeldeutigen Lesbarkeit einzelner Bildzeichen.

Für den Vorderen Orient sind entsprechende Phänomene weit weniger offensichtlich und bisher nur ansatzweise untersucht. Allerdings lässt sich auch dort schon früh der gezielte Einsatz und die große gesellschaftliche Relevanz von Text-Bild-Artefakt Konstellationen beobachten.

Multimodalität und kulturelle Ordnung: Ontologische Konsequenzen

Wie lassen sich aus kultur- und kontextspezifischen Formen und Funktionen multimodal konzipierter Artefakte Schlussfolgerungen auf die wirklichkeitskonstitutiven, also ontologischen Grundlagen einer Gesellschaft ableiten? Hier begeben wir uns in Diskursfelder der Kultursemiotik[6] und der „Semiosphären“,[7] die Zusammenhänge zwischen sozialer Kultur (Gesellschaft als Menge von Zeichenbenutzern), materialer Kultur (Gesamtheit der Artefakte als Menge von Texten) und mentaler Kultur (Mentalität einer Gesellschaft als Menge von konventionellen Codes) behandeln (vgl. Bal/Bryson 1991; Keane 2018).

Beispielsweise evozierten Beischriften auf griechischen Vasenbildern durch ihren Textgehalt in der Regel Narrative in den Köpfen ihrer Betrachter, während die Inschriften auf altorientalischen Rollsiegeln und ihren Abrollungen auf Tontafeln auf die personale und soziale Identität von Personen verwiesen und somit konkrete Anwesenheit und Verantwortlichkeit erzeugten. Ägyptische Bildnisse wiederum generierten durch Anspielungen auf mythische Überlieferungen mindestens zwei Wirklichkeitsebenen: eine für den Verstorbenen selbst, der in der bildgewordenen Jenseitswelt versorgt werden sollte, und eine für den antiken und rezenten Betrachter, der den Verstorbenen versorgt wissen sollte. Über die tonale Wiedergabe von ‚lesbaren‘ Götterbildern oder kryptographisch geschriebenen Namen, konnte zudem eine weitere Wirklichkeitsebene erzeugt werden, die ebenfalls auf die Gesamtbedeutung der Bild-Schrift-Werke Einfluss nehmen konnte.

Hierzu könnten Impulse aus der kognitionswissenschaftlichen Forschung aufgenommen und diskutiert werden, denn sie tragen wesentlich zu unserem heutigen Verständnis des Mehrwerts bei, der sich aus der Verschränkung von sinnlichen Erfahrungen und kognitiver Erkenntnis in verschiedensten sozialen Verständigungs- und Selbstverständigungsprozessen ergibt (siehe z.B. Levinson/Holler 2014). Einerseits ist also anzunehmen, dass bestimmte Verknüpfungen von Zeichenmodalitäten und Kanälen der Sinneswahrnehmung gleichermaßen in antiken wie gegenwärtigen Kulturen für spezifische mediale und situative Konfigurationen genutzt werden und wurden (vgl. Stöckl 2016). Andererseits mahnt die Vielfalt der Überlieferung zur Vorsicht vorschnell auf Universalien zu schließen.

Die Tagung möchte Möglichkeiten und Nutzen der multimodalen Artefaktanalyse für die altertumswissenschaftliche Forschung erproben. Wir freuen uns auf anregende Vorträge und Diskussionen, die uns einem besseren Verständnis der Vielfalt menschlicher Kommunikation und ihrer graphischen Umsetzung ein Stück näherbringen.

Zitierte Literatur

Bal, M./Bryson, N. (1991): Semiotics and Art History. The Art Bulletin 73 (2), 174–208.

Baines, J. (2007): Visual and Written Culture in Ancient Egypt. Oxford.

Bateman, J./Wildfeuer, J./Hiippala, T. (2017): Multimodality. Foundations, Research and Analysis. A Problem-Oriented Introduction (Mouton Textbook). Berlin, Boston.

Cassirer, E. (2010 [1923-1929]): Philosophie der symbolischen Formen. Hamburg.

Diekmannshenke, H.-J./Klemm, M./Stöckl, H. (Hrsg.) (2011): Bildlinguistik. Theorien – Methoden – Fallbeispiele (Philologische Studien und Quellen 228). Berlin.

Große, F. (2011): Bild-Linguistik. Grundbegriffe und Methoden der linguistischen Bildanalyse in Text- und Diskursumgebungen (Germanistische Arbeiten zu Sprache und Kulturgeschichte 50). Frankfurt a.M.

Halawa, M. A. (2009): Widerständigkeit als Quellpunkt der Semiose Materialität, Präsenz und Ereignis in der Semiotik von C.S. Peirce. KODIKAS/CODE. Ars Semeiotica 32 (1-2), 11–24.

Keane, W. (2018), On Semiotic Ideology. Signs and Society 6 (1), 64–87.

Kress, G. (2010): Multimodality. A Social Semiotic Approach to Contemporary Communication. London.

Levinson, S. C./Holler, J. (2014): The origin of human multi-modal communication. Philosophical transactions of the Royal Society of London. Series B, Biological sciences 369 (1651), 1–9.

Lotman, J. M. (1990): „Über die Semiosphäre“. Zeitschrift für Semiotik 12 (4), 287–305.

Sachs-Hombach, K. (1999): Bildgrammatik. Interdisziplinäre Forschungen zur Syntax bildlicher Darstellungsformen. Magdeburg.

Siefkes, M. (2015): Sturm auf die Zeichen: Was die Semiotik von ihren Kritikern lernen kann. Schriften zur Kultur- und Mediensemiotik Online (1), 7–42.

Stöckl, H. (2004): Die Sprache im Bild – das Bild in der Sprache: zur Verknüpfung von Sprache und Bild im massenmedialen Text. Konzepte, Theorien, Analysemethoden (Linguistik-Impulse & Tendenzen). Berlin.

Stöckl, H. (2014): Semiotic Paradigms and Multimodality. In: Carey Jewitt (Hrsg.): The Routledge Handbook of Multimodal Analysis. Abingdon, New York, 274–386.

Stöckl, H. (2016): Multimodalität. Semiotische und textlinguistische Grundlagen. In: Hartmut Stöckl, Nina-Maria Klug (Hrsg.): Handbuch Sprache im multimodalen Kontext (Handbücher Sprachwissen 7). Berlin, Boston, 3–35.

Thibault, P. J. (1991): Social Semiotics as Praxis: Text, Social Meaning Making, and Nabokov’s Ada. Minneapolis, Oxford.

Wildfeuer, J./Bateman, J. A. (2018): Theoretische und methodologische Perspektiven des Multimodalitätskonzepts aus linguistischer Sicht (IMAGE 28), Minneapolis, Oxford.

[1] Siehe z.B. Kress and van Leeuwen 1996, 2001; Stöckl 2016. Zur Verknüpfung von Multimodalitäts-Forschung und Multimedia-Analyse siehe z.B.  http://multimodal-analysis-lab.org/  (letzter Zugriff: 10.12.2019).

[2] Siehe stellvertretend Bateman/Wildfeuer/Hiippala 2017; Wildfeuer/Bateman 2018; Kress 2010; Diekmannshenke/Klemm/Stöckl 2011.

Ein erster Vorstoß zu einer altertumswissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Themenkomplex war die Berliner Topoi-Tagung „Pictures and Texts – Pictures as Text. Iconicity and Indexicality in Graphic Communication” (07/2017). Bei dieser lag der Fokus stärker auf textbasierten Artefakten als hier vorgesehen; die damaligen Initiatorinnen, Silvia Kutscher und Aleksandra Lapčić, sind auch zur Münchner Tagung eingeladen.

[3] Zum hier verwendeten Verständnis von „semiotischen Ideologien“ siehe Keane 2018.

[4] Zu Semiotik-kritischen Positionen der sich mit „mit ästhetischen Objekten befassenden Disziplinen“ siehe ausführlich Halawa 2009 und zusammenfassend Siefkes 2015, 7-16.

[5] Siehe bereits Thibault 1991.

[6] Ausgehend von Ernst Cassirers Konzeption der Kultur einer Gesellschaft als Zeichensystem von „symbolischen Formen“ (Cassirer 1923-29).

[7] Jurij Lotman (u.a. 1990) entwickelte das Konzept der „Semiosphäre“ aufbauend auf der von Anthropologen wie Clifford Geertz und Soziologen wie Max Weber vertretenen Vorstellung von Kultur als selbstgesponnenes Bedeutungsgewebe.